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Zucker

Skandinavische Süße ist nicht gleich asiatische Süße

Über Geschmack lässt sich nicht streiten? Dann setz einfach mal Finnen und Inder an einen Tisch und bitte sie darum, Gerichte hinsichtlich ihrer Süße zu beurteilen. Hoffentlich hast du einen Kurs in Anti-Gewalt-Training gemacht.
Foto: Sarah_Ackerman via Flickr

Zucker ist wie eine Wärmflasche. Er hilft uns bei körperlichem Schmerz, tröstet uns, wenn wir traurig sind, und dient zudem als Zeitmaschine, die uns schnurstracks in unsere heile Kindheit zurückbringt. Aber klar: Zucker hat, wie wir alle wissen, auch verheerende Auswirkungen auf die Weltgesundheit.

Das weiße Zeug gehört zu den billigsten und verbreitetsten Zutaten auf der Welt. In fast allen industriell verarbeiteten Lebensmitteln findet er Verwendung, sei es für eine verbesserte Geschmackskomplexität, Struktur, Konsistenz oder Farbe. Und auch wenn etwas nicht süß schmeckt—wie Mikrowellen-Carbonara aus dem Supermarkt—sei dir gesagt, dass es ohne die nötige Portion Zucker niemals so schmecken oder aussehen würde.

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Bis vor Kurzem habe ich vier Monate lang als Gastro-Forscher im Nordic Food Lab—dem Epizentrum der Neuen Nordischen Küche—auf einem Boot in Kopenhagen, gegenüber vom noma, gearbeitet. Während meiner Zeit dort fing ich an, mir Gedanken darüber zu machen, warum die Gäste bei den Desserts im noma regelmäßig in Jubelstürme ausbrechen. Meine Gedanken wanderten zurück in meine Kindheit, als meine türkischen Freunde und ich gerne unfassbar süßes Baklava naschten. Ich selbst habe nie mehr als drei Stücke runterbekommen, während ich bei meinen Freunden mit dem Zählen kaum nachkam.

Warum konnte ich nicht so viel Zucker wie die anderen vertragen? Warum habe ich als Kind in Vietnam Kondensmilch geliebt, aber hatte große Schwierigkeiten damit, sie 15 Jahre später—bei meiner Rückkehr nach Hanoierneut meinen Geschmacksknospen schmackhaft zu machen?

Wie unterschiedlich wir Süße wahrnehmen wurde im Labor deutlich, als ein Praktikant aus der indischen Stadt Pune mit Tüten voll indischer Desserts an Bord kam. Wir fanden die Geste alle echt großartig, und dennoch—ob es nun mit unserem jeweiligen Gen-Pool, dem unterschiedlichen soziokulturellen Hintergrund, den persönlichen Präferenzen oder schlicht und einfach mit der Nähe zum noma zusammenhing—waren wir von den indischen Dessert-Köstlichkeiten alles andere als begeistert.

Mein erstes Mal im noma hat mir in Bezug auf Süße echt die Augen geöffnet. Renés Mantra „Finger weg von Zucker. Zucker ist der Feind" hing mir noch in den Ohren, als das Menü auf die Zielgerade einbog. Und es sollte sich herausstellen, dass die Desserts im noma genau nach meinem Geschmack waren. Auf Raffinadezucker wird hier gänzlich verzichtet. Stattdessen setzt man auf Honig aus der Region. All diejenigen unter uns, die in ihrer Ernährung nicht an Zucker sparen, werden beim Dessert-Angebot im noma einen (gesunden) Zuckerschock erleiden. Dennoch würde ich fast wetten, dass sich der enorme Einfluss der Neuen Nordischen Küche—angeführt von René und dem noma—auch auf die Wahrnehmung von Köchen und Verbrauchern auf der ganzen Welt auswirkt.

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Im Labor habe ich dann zusammen mit Roberto Flore ein schleimiges Sauermilcherzeugnis aus Finnland namens Viili bei einem der berüchtigten Saturday Night Projects im noma vorgestellt. Da er aus Sardinien kommt, hat Roberto eine andere Wahrnehmung von Zucker als ich, und sein Süße-Verständnis unterscheidet sich auch definitiv von den im noma üblichen Süße-Graden. Am Ende haben wir unser Gericht—„Sauna & Frühling", ein Teller mit Viili, getrockneter Pastinaken-Rinde sowie einem Kapuzinerkresse-Gratin—als Appetizer oder als Gericht direkt vor dem Dessert präsentiert.

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„Sauna & Frühlung". Foto von der Autorin.

Nachdem ich dem Team vom noma also mein Dessert—samt dem schleimigen Freund aus Finnland—vorgestellt hatte, kamen wir auf Süße zu sprechen. René fand, dass das Dessert sehr süß schmecken würde, ebenso Rosio, der Gebäck-Chef. Roberto war da ganz anderer Meinung. Also musste der Brix-Messer her. Er zeigte 9Bx, aber das Team hat sich dann auf etwa 23 einigen können. „Das Messgerät muss kaputt sein", meinte René. Ende der Diskussion. Ich kann mir gut vorstellen, wie viele Südländer—nachdem sie einige Zeit im noma gearbeitet haben—bei ihrer Rückkehr die mit viel Liebe gebackenen Kekse von Oma leider ausspucken müssen, weil sie sie viel zu süß finden.

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Beim Anrichten in der noma-Küche, mit Roberto im Hintergrund. Foto: Afton Halloran.

Vor meiner Zeit im Nordic Food Lab hatte ich mich gänzlich einer zuckerfreien Diät verschrieben. Ich wollte wissen, wie sich der Verzicht auf Zucker auf meinen Stoffwechsel, meine Stimmung und meinen Energiehaushalt auswirken würde. Ich habe ganze drei Jahre durchgehalten, aber wie so oft galt auch in diesem Fall das Motto „Aller Anfang ist schwer", verdammt schwer sogar. In den ersten Monaten schmeckte alles fast so fad wie typisches Essen aus der Schulmensa. Doch schon bald dämmerte mir ein scheinbares Paradoxon: Je weniger Zucker ich konsumierte, desto empfänglicher wurden meine Geschmacksknospen auch für die feinen und subtilen Aromen—und desto mehr zweifelte ich an der Richtigkeit des alteingesessenen Leitparadigmas von Zucker als Geschmacksverstärker.

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Gerade wenn du keinen Zucker isst, willst du immer und überall darüber reden, mit dem angenehmen Nebeneffekt, dass du feststellst, wie persönlich doch der Süßebegriff ist. Es ist einfach faszinierend zu sehen, wie sehr sich die Leute darin unterscheiden, welche Zuckermenge in ihren Kaffee oder Haferbrei reingehört. Ein jeder hat seinen ganz individuellen perfekten Süßegrad. Unter dieser Schwelle gilt etwa eine Tasse Kaffee so lange als ungenießbar, bis die richtige Dosis Zucker zugeführt wird. Was genau ist aber der erste Schritt in der Entwicklung deines persönlichen Süßeempfindens? Wann und wo beginnt alles?

Der Mensch wird schon mit einer Vorliebe für Zucker—und einer Abneigung gegen bittere Geschmacksrichtungen—geboren. Und alles beginnt im Mutterleib. Durch das Fruchtwasser gelangen auch Aromen zu dem Fötus, der die verschiedenen Geschmacksrichtungen je nach Zuführungsmenge unterschiedlich stark aufnimmt und verarbeitet. Und es sind genau diese ersten aromatischen Erfahrungen, die uns ein Leben lang prägen. Einigen Wissenschaftlern zufolge sollen unsere Geschmacksvorlieben zudem genetisch determiniert sein, wohingegen andere der Auffassung sind, dass sowohl soziokulturelle als auch geographische Faktoren auf unsere Geschmackswahrnehmung Einfluss nehmen, vor allem hinsichtlich Süße.

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„Gammel Dansk", ein Dessert im noma aus Milch und Sauerklee. Foto: Sarah_Ackerman via Flickr. Braunkäse und Schlehdorn, ein weiteres Dessert im noma. Foto: Eleanor Morgan.

Neben Fruchtwasser nehmen wir Menschen als erstes die Milch aus den Brüsten unserer Mutter zu uns, und wer schon mal (bewusst) Muttermilch probiert hat, wird mir zustimmen, dass sie ziemlich süß schmeckt. Ob nun aber indische Frauen süßere Muttermilch haben als, sagen wir mal, skandinavische Frauen, kann ich nicht beurteilen.

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Die Länder dieser Welt unterscheiden sich auch durch das Nahrungsangebot während der Kindheit. Es prägt unseren Geschmackssinn für Süßes. Noch vor ein paar Tausend Jahren haben wir in Nordeuropa unser Verlangen nach Süßem—wenn auch selten—mit Honig und getrockneten Früchten gestillt. Je südlicher wir gehen, desto sonniger wird es, und infolgedessen werden auch die Früchte größer und süßer. Darum macht es auch total Sinn, dass ein Kind, das in Andalusien aufwächst und zu jeder Zeit an extrasüße Plattpfirsiche rankommt, einen anderen Geschmackssinn ausbildet als etwa ein Kind in Finnland, das mit Blaubeeren groß wird.

Früchte aus heißen Klimazonen, wie beispielsweise Datteln, haben oft einen enormen Süßegrad, und Fruktose—der Zucker aus Honig und Früchten—ist deutlich süßer als Saccharose, unser gewöhnlicher Haushaltszucker. Wilde Blaubeeren schmecken süß für mich, aber ich habe meine Zweifel, ob auch jemand aus südlichen Gefilden meine Meinung teilen würde. Vielleicht machen sich Finnen (wie ich) auch deswegen nicht viel aus einem hohen Süßegrad, weil sie ganz einfach nie in seinen Genuss kämen, wenn sie sich nur von dem ernähren würden, was in ihrer Heimat anwächst. Niemals.

Vor langer Zeit war Raffinadezucker gleichbedeutend mit Prestige—je weißer der Zucker, desto höher dein sozialer Rang. Heutzutage sieht die Sache ganz anders aus, zumindest in den nordischen Ländern, wo Raffinadezucker recht verpönt ist. Ich bin überzeugt davon, dass dies auch der Verdienst von René ist. Aber sobald du eine Fahrt aufs Land machst und die fortschrittlichen Großstädte hinter dir lässt, wirst du feststellen, wie verbreitet der Genuss von weißem Zucker in Wirklichkeit noch ist. Und du wirst dich unweigerlich fragen: Wenn einer der größten und einflussreichsten kulinarischen Innovatoren der letzten Jahrzehnte—ein Mann, der wie kaum ein anderer für deliziöse Küche steht und kämpft—sich dermaßen deutlich gegen Zucker ausspricht, warum nehmen wir uns seine Botschaft nicht mehr zu Herzen? Die traurige Wahrheit lautet leider, dass es verdammt schwierig ist, das Joch des Verlangens nach Süßem abzuschütteln.

Mittlerweile kann—oder muss—ich über meine zuckerfreie Erfahrung in der Vergangenheitsform sprechen, obwohl ich auch heute noch die Finger von Raffinadezucker lasse. Auch wenn ich zum Nachtisch Käse bevorzuge, ist Zucker—wenn auch in Maßen—wieder in mein Leben zurückgekehrt. Ich weiß nicht, ob meine Kindheit, die ich in verschiedenen Stationen im Ausland verbracht habe, auf meine persönliche Zuckerwahrnehmung Einfluss genommen hat. Und auch wenn ich mir darüber bewusst bin, wie schädlich Zucker für unsere Gesundheit sein kann—und trotz meiner Zeit im noma und dem Nordic Food Lab—muss ich mich geschlagen gegeben und widerwillig konstatieren, dass mir jegliche Rationalität abhanden kommt, sobald es um Zucker geht. So wie vielen anderen Menschen auch.

Seit vielen Jahren wissen wir um die tödlichen Gefahren des Rauchens und rauchen dennoch weiter. Zwar verpestet Zucker unsere Lungen nicht mit Teer, doch schon in der nahen Zukunft wird sich vielleicht zeigen, welches mörderische Potential auch in Zucker steckt. Ja, ich habe Menschen aus Südostasien, Indien und Sardinien kennengelernt, die allesamt ein Faible für sehr süße Speisen haben, und ja, Skandinavier halten sich oft—auch dank des „noma-Effektes"—von Raffinadezucker fern, aber wie dem auch sei: Wenn ich nach meiner persönlichen Erfahrung urteile, genießt ein jeder von uns, egal wo und in welcher Dosis, hier und da gerne etwas Süßes.

Wir alle brauchen einfach mal eine Süßigkeit. Und wenn sich unser Geschmackssinn für Zucker wirklich schon vor unserer Geburt ausbildet, können wir uns wohl den Gedanken aus dem Kopf schlagen, dass wir eines Tages ganz und gar auf ihn verzichten können.

Oberstes Foto: Sarah_Ackerman | Flickr | CC BY 2.0