In diesem Luftschutzbunker wird Gemüse angebaut
Photos by Helen Nianias.

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In diesem Luftschutzbunker wird Gemüse angebaut

Der herkömmlichen Landwirtschaft stehen schwere Zeiten bevor. Also müssen neue und mutige Ideen her. Das dachten sich auch zwei Unternehmer aus London. Und beschlossen deshalb, unter einer U-Bahn-Linie Gemüse anzubauen. Aber kann das mehr als nur ein...

Wie du es auch drehst und wendest, der traditionellen Landwirtschaft stehen schwere Zeiten bevor. Wissenschaftler schätzen, dass unser Humus—dem bei der Bodenfruchtbarkeit eine essentielle Rolle zukommt—nur noch für 60 Jahre reichen wird und dass ein Großteil davon schon heute unbrauchbar ist. Aufgrund des Klimawandels lassen sich nur schwer Vorhersagen über kommende Anbaubedingungen machen. Dazu kommt noch der drohende Wassermangel sowie die zunehmende Urbanisierung in vielen Teilen der Welt. Ach so, und natürlich der rasante Anstieg der Weltbevölkerung. Kurz und gut, wir sollten uns unbedingt Gedanken darüber machen, wie und was wir in Zukunft anbauen sollten, um die Welternährung (wenigstens mehr oder weniger) sicherzustellen.

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Da kommen Steven Dring und sein Geschäftspartner Richard Ballard natürlich genau richtig, die aktuell untersuchen, inwieweit das auch mit Growing Underground, einem äußerst radikalen Anbaukonzept, möglich wäre. Im Londoner Stadtteil Clapham, rund vier Etagen unter der Northern Line, wächst ein Keim der Hoffnung auf eine nachhaltige und urbane Form der Landwirtschaft.

Bedeutende Umweltfragen stehen im Mittelpunkt ihres Projekts. Die unterirdischen Tunnel werden bei konstant 16 Grad Celsius gehalten, während Ventilatoren für eine durchgehende Luftzirkulation sorgen. Auf diese Weise können dort ganzjährig Pflanzen angebaut werden. Und da wir es mit Hydrokulturen zu tun haben, kommen anstelle von Erde Pflanzenmatten und Wasserpumpen zum Einsatz, die die Samen mit Nährstoffen und Feuchtigkeit versorgen. Zudem wird das Sonnenlicht durch LED-Leuchten ersetzt.

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Growing Underground ist mehr als nur Zukunftsmusik—denn in dem endlosen Tunnelsystem wachsen schon heute Salat und Mikro-Kräuter. Als nächstes planen Dring und Ballard, Paprika und Auberginen anzubauen. Das Projekt erhält übrigens prominente Unterstützung von Michel Roux Jr, Inhaber des Londoner Nobel-Restaurants La Gavroche und ehemaliges Jury-Mitglied einer beliebten BBC-Kochshow. Seine Hauptaufgabe besteht zwar darin, Dring und Ballard mit Tat und Rat zur Seite zu stehen, er lässt es sich aber nicht nehmen, ab und zu ein paar Kräuter für sein eigenes Restaurant mitgehen zu lassen.

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Das Projekt läuft mittlerweile seit rund zwei Jahren, und ihre Kräuter und Salate sind in der Regel schnell ausverkauft, wenn sie auf dem Londoner New Covent Garden Market angeboten werden. Anfang 2015 soll es dann richtig losgehen. „Wir bieten die frischesten Kräuter weit und breit, was den Leuten natürlich sehr zusagt. Daran wollen wir festhalten", so Dring. „Zudem darf man nicht vergessen, dass wir noch ein ganz junges Unternehmen sind—die vollständige Farm muss erst noch den Betrieb aufnehmen. Schließlich ist das Ganze bisher nur eine reine Testanlage." Außerdem, so verrät er uns, wird der Markt für Fertigsalate noch in diesem Jahr die 1,25-Milliarden-Euro-Grenze überschreiten.

Fest steht also: Mehr und mehr Kunden sind hungrig auf Salat—aber warum wird nun gerade unterirdisch angebaut? „Ursprünglich geht unser Projekt auf Ideen rund um das Konzept von Vertical Farming zurück, bei dem es um Themen wie Klimawandel, Urbanisierungsprozesse, Wasserknappheit und erneuerbare Energien geht. Aus unseren Gesprächen wurde schließlich ein Geschäftsmodell", so Dring weiter. „Wir wussten, dass ein Anbau auch ohne natürliches Licht möglich ist, solange Hydrokulturen und LED-Leuchten zur Verfügung stehen. Darum sind wir mit einem finnischen LED-Hersteller in Kontakt getreten. Außerdem wussten wir von der Tunnelanlage. Wir mussten also nur die Eigentümer überreden, uns die Schlüssel auszuhändigen, in unserem Fall die Londoner Verkehrsgesellschaft. Die waren von unseren Plänen begeistert und haben uns die Nutzung der Räumlichkeiten gestattet."

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Die Tunnel wurden während des zweiten Weltkriegs als Luftschutzbunker gebaut, standen aber seit 1945 still. Zwischenzeitlich sollten sie Teil einer neuen U-Bahn-Linie werden, aber diese Pläne verliefen im Sand. Gut so, denn so konnten die Tunnel ohne Hindernisse ausgebaut werden.

Und das Ergebnis ist echt unheimlich. Nachdem man eine 179 Stufen fassende Wendeltreppe herabgestiegen ist (der Aufzug ist leider defekt), landet man in fast kompletter Dunkelheit. Dring schaltet seine Taschenlampe an und schon stehen wir in einem 6.000 m2 großen Tunnel, noch immer umringt von Dunkelheit. Und vielen, vielen Graffitis.

Ich will von ihm wissen, ob er es hier unten nie mit der Angst zu tun bekommt. „Hier hörst du manchmal echt komische Geräusche. Und wenn du dann ganz alleine bist, kann das schon ein bisschen unheimlich sein. Aber im Grunde weißt du ja, dass es hier sicher ist…" Er kommt ins Stocken. „Anfangs war ich schon besorgt, ob hier unten irgendwo jemand hausen könnte."

Und das nicht ohne Grund. Denn es waren mehrere Einbrüche von Jugendlichen und Abenteuerlustigen nötig, damit sich der Verkehrsbetrieb durchringen konnte, in einbruchsichere Türen und Tore zu investieren. Darum prangten in den Anfangsmonaten noch Graffiti-Warnungen à la „Hier wohne ich" und „Nicht weitergehen" an den Wänden, was bei den beiden Unternehmern für ein mulmiges Gefühl sorgte.

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Wie sehr sich Dring auch ins Zeug legt, den Tunnel schönzureden, das Gefühl der Beklemmung bleibt hier unten einfach bestehen. „Bringst du mich jetzt um?", will ich von ihm wissen, als er wieder mal sein Gesicht mit der Taschenlampe beleuchtet, fast so, als wolle er mir eine gruselige Geistergeschichte erzählen. Er schaut mich perplex, aber durchaus verständnisvoll an: „Nein, hatte ich eigentlich nicht vor."

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Ich frage ihn, ob er während des Sommers nicht die Außenwelt vermisst hat. „Wir verbringen hier meistens nicht mehr als die Hälfte des Tages. Darum habe ich vom Sommer auch nicht wirklich viel verpasst", meint er. „Hier unten hat es konstant 16 Grad. Wenn es also draußen sehr heiß ist, lässt es sich im Tunnel gut aushalten. Das Gleiche gilt, wenn es in London mal wieder schüttet." Und wenn er sich nicht gerade hier unten aufhält, sitzt er höchstwahrscheinlich in einem kleinen Wohnwagen, ausgestattet mit Tischen und Stühlen.

Wenn man erstmal die dunklen Ecken des Tunnels hinter sich gelassen hat, entpuppt sich der unterirdische Garten als ein nettes Fleckchen Erde, vor allem für Science-Fiction-Fans. Steven zeigt mir unter anderem Wasabi-Rauke, Senf, zwei verschiedene Sorten Erbsensprossen sowie Petersilie, die allesamt unter der sorgfältigen Aufsicht des Vollzeit-Gärtners Gabriel „Gabe" de Franco stehen. Die Senfblätter schmecken schön scharf und sind äußerst saftig, während die Kräuter nur so vor Aroma strotzen. Als mir Gabe gerade das Pumpensystem hinter der Hydrokultur erklärt, rast irgendwo in unserer Nähe eine U-Bahn vorbei und bringt die Koriandersprossen ordentlich zum Zittern.

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Dring ist optimistisch, dass seine Erzeugnisse schon bald in örtlichen Supermärkten zum Verkauf angeboten werden. Und das ist auch gut so. Denn Mikro-Kräuter könnten sich als Segen für den Verbraucher erweisen. „Neuen US-Studien zufolge haben Mikro-Kräuter einen sechsmal höheren Nährwert als handelsübliche Kräuter", erklärt mir Dring. „Außerdem sind sie äußerst geschmacksintensiv, weswegen man auch mit kleinen Mengen auskommt."

Die Absichten hinter dem Unternehmen Growing Underground sind mehr als löblich. Trotzdem frage ich mich, inwieweit auf diese Weise wirklich Landwirtschaft betrieben werden kann, und vor allem in welchem Umfang. „Wie viel von unseren heutigen landwirtschaftlichen Erzeugnissen in Städten angebaut werden könnte, wird noch untersucht. Wir rechnen aber damit, dass es in Zukunft viele ähnliche Projekte geben wird. Stadtplaner und Architekten berücksichtigen schon jetzt Ideen dieser Art", so Dring. „Die Städte von morgen werden deutlich weniger auf Lebensmittel von außen angewiesen sein."

Sollte es möglich sein, durch den Anbau von Microgreens eine nachhaltige Lebensmittelversorgung sicherzustellen, kann man Basilikum aus stillgelegten Luftschutzbunkern nur begrüßen.