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Lima

Sogar Perus beste Köche sind verrückt nach Fast Food

Der Chefkoch des El Señorío de Sulco in Lima, Flavio Solórzano, setzt sich dafür ein, ein Bewusstsein für Perus vielfältige Kultur zu schaffen und zu verbreiten. Das gelingt ihm mit Hilfe seines Restaurants und dem extrem beliebten Mistura...

Der Koch Flavio Solórzano hat seinen Laden fest im Griff. „In meiner Küche", sagt er, „ist noch keiner erstochen worden."

Solórzano ist Chefkoch des El Señorío de Sulco in Lima. Er kann sich noch gut daran erinnern, wie er einen europäischen Koch in Chile traf, „der seine Köche wie ein Haufen unkultivierter Barbaren behandelte", aus dem einzigen Grund, dass sie aus Südamerika kamen.

„Da sein Restaurant eines der besten des Landes war, konnte keiner etwas sagen", meint Solórzano. „Eines Tages attackierte ihn einer seiner Köche mit einem Messer. Er landete im Krankenhaus und eine Bluttransfusion sowie eine Operation waren notwendig. Einige der Chilenen, die er oft diskriminierte, spendeten am Ende ihr Blut."

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Solórzano hat es aber schon im Blut. Seine Mutter, Isabel Alvarez, wurde fast durch Zufall Ernährungsanthropologin und Restaurantbesitzerin. Eigentlich war sie Soziologin und arbeitete für die Ernährungs- und Landwirtschaftsorganisation der Vereinten Nationen, wo sie Bauern in abgelegenen Gebieten des Landes schulte. Inmitten der politischen Gewalt und der Wirtschaftskrise in den 80er Jahren in Peru, verlor sie plötzlich ihren Job und entschied sich, es in der Küche zu versuchen. Damals hatte sie keine Ahnung, wohin es sie noch führen sollte.

REZEPT: Flavio Solórzanos gegrillte Riesengarnelen in Bananenblättern

Während dieser Zeit war Kochen als Beruf nicht unbedingt gerade eine der beliebtesten Beschäftigungen, besonders in einem Restaurant, das ausschließlich peruanisches Essen servierte. Trotzdem nahmen Isabel und ihre Mutter, Julia, das Risiko in Kauf und eröffneten El Señorío de Sulco im Jahr 1986 mit dem Ziel, die kulinarischen Traditionen der verschiedenen Regionen Perus wieder aufleben zu lassen und zu erhalten.

Acht Jahre nachdem das Restaurant eröffnet hatte und als es gerade in den Bezirk Miraflores umzog, stieg Solórzano mit ein. Er verwandelte das kleine Lokal mit rustikaler Atmosphäre zu einem eleganten Restaurant mit aufmerksamen Service.

„Diese zwei Frauen haben meine Karrierewahl und meine kulinarische Philosophie enorm beeinflusst", sagt Solórzano. „Meine Mutter war die, die sich darum bemühte, die traditionelle peruanische Küche zu retten und das wissen unsere Kunden auch. Sie sagen, wir wären die ersten gewesen und wir hätten nicht damit aufgehört. Wir haben die Art, wie wir unseren Kunden traditionelle Gerichte und Geschmäcker servieren, immer wieder neu erfunden. Deshalb kommen sie zu uns."

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Solórzano liebt Quinoa. Letztes Jahr schrieb er Ayara: Madre Quinua—halb Kochbuch, halb Geschichte und Eigenschaften von Quinoa. Die Nachfrage aus dem Ausland hatte Auswirkungen auf Peru. „Quinoa ist viel teurer geworden im Vergleich zu früher. Aber als Eiweißquelle ist es immer noch viel billiger als Fleisch. Wir müssen den Leuten klar machen, dass Quinoa nicht nur ein Kohlenhydrat, sondern auch eine super Eiweißquelle ist."

2007 wurden Solórzano und seine Mutter Teil einer Gruppe, die die APEGA, die Peruanische Organisation für Gastronomie, gründete. Diese wiederum organisiert Mistura, Lateinamerikas größtes Foodfestival. Das erste Mal fand es 2008 statt und zählte 30 000 Besucher. Letzten September waren allein die internationalen Besuche 30 000.

„Wir haben so ein Wachstum nicht erwartet—überhaupt nicht", sagt Solórzano. „Wir sind begeistert, wie das Festival zu einem Treffpunkt für Peruaner aus dem ganzen Land geworden ist und dass wir ihnen und der ganzen Welt die Fortschritte in unserer Gastronomieszene zeigen können."

Aber Solórzano gibt zu, dass er die Finger einfach nicht ganz von Fast Food lassen kann, obwohl er Zugang zu wunderschönen, regionalen Zutaten hat. „Es ist wie eine Droge—der hohe Fettgehalt, die raffinierten Kohlenhydrate, der Zucker", sagt er. „Es ist so lecker und macht süchtig. Manche Leute tendieren dazu, davon abhängig zu werden, so wie ich, andere nicht. Ich habe mich unter Kontrolle, weil ich meine Lebensqualität erhöhen will, aber dazu braucht er sehr viel Disziplin." Da ist es nicht gerade förderlich, dass Lima auch noch die meisten Fast Food-Restaurants pro Einwohner auf der ganzen Welt hat.

Er sucht aber keine Entschuldigungen dafür, was Fast Food in diesem Land anrichtet. „Die primitive Denkweise [der Eltern] muss sich weiter entwickeln. Sie denken, ‚umso mehr ich meinen Kindern zu essen gebe [Junkfood], umso glücklicher sind sie und umso mehr zeige ich ihnen, wie sehr ich sie liebe'. Aber sie müssen von dieser Einstellung loskommen", sagt Solórzano. „Du machst dein Kind zu einem potentiellen Fast Food-Süchtigen, was tödlich enden kann. Unseren Kindern beizubringen, wie man sich richtig ernährt, muss genauso wichtig sein, wie sie über gute Werte, Sexualerziehung oder die Gefahren von Drogenmissbrauch aufzuklären."

Solórzano veranschaulicht dies mit einem paradoxen Aspekt der heutigen peruanischen Küche: dem Versuch, eine kohärente Identität und Geschichte der traditionellen Gerichte und Zutaten Perus zusammenzustückeln, inmitten eines Meers von billigem Junk Food, das meistens aus dem Ausland kommt. „In der Entwicklung der peruanischen Gastronomie haben wir die erste Phase abgeschlossen", sagt er, „die Identifikation bestimmter Köche, Gerichte, kulinarischer Regionen, Produkte und Zubereitungsarten, die einen sofortigen Wiedererkennungswert haben müssen.

Der nächste Schritt muss „auf einem akademischen Level" abgeschlossen werden, in dem die peruanische Küche beinahe zu einer Disziplin erhoben wird, wie die französische Küche. „Wir haben hauptsächlich Bücher und TV-Sendungen, die meistens mehr oder weniger eine Rezeptsammlung sind", sagt Solórzano. „Wenn du im Internet nach ceviche suchst, erhältst du vermutlich sehr viele Treffer, nicht nur aus Peru, sondern auch aus den USA und von anderen internationalen Quellen, die aber die peruanische Technik als ihre Hauptreferenz verwenden." Er freut sich natürlich über die Anerkennung, aber hofft, dass Perus vielfältige Esskultur auch im Ausland Anerkennung findet, so wie es mit den Regionen, Zutaten und den Gepflogenheiten Mexikos der Fall ist.

Genau da setzt Mistura an. „Ich glaube, Mistura spielt bei der Förderung des Konsums gesunder und traditioneller Lebensmittel eine wichtige Rolle, aber das sollte nicht der Schwerpunkt sein. Ansonsten denken die Leute, wir wären das Gesundheitsministerium!", sagt er. „Außerdem sollte Mistura die Leute nicht davon abhalten, köstliche mondongo oder diese Gerichte mit Schweinefleisch, die zur Hälfte aus Fleisch und zur Hälfte aus Fett bestehen, zu essen. Die sind einfach lecker. Die Konsistenz, der Geschmack."