Auf Ameisenjagd im Amazonas für die besten Köche der Welt

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Insekten

Auf Ameisenjagd im Amazonas für die besten Köche der Welt

Das berühmteste Gericht das brasilianischen Starkochs Alex Atala stammt aus dem Amazonas-Regenwald. Wir sind hingereist, um uns mit der legendären Ameisensammlerin Doña Brazi auf die Suche zu begeben.  

Nach zweitägiger Reise erreiche ich mit meiner wertvollen Fracht São Paulo.

„Endlich! Wir müssen schon seit einer Woche ohne Ameisen auskommen", sagt Alex Atala, als ich mit einer frischen Ladung Saúva-Ameisen aus São Gabriel da Cachoeira im oberen Teil des Amazonasbeckens an der Grenze zu Venezuela und Kolumbien ankomme. „Das war unsere schlechteste Woche überhaupt", fügt seine Assistentin Andrea Campos hinzu.

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Atala ist Brasiliens meistgefeierter Koch, ein beliebter Held, der mit der Fußballlegende Pelé und dem Paten von Bossa nova Tom Jobim auf einer Stufe steht. Sein Restaurant D.O.M. wird derzeit auf der Liste der 50 besten Restaurants der Welt des Restaurant Magazine an neunter Stelle geführt und ist für seine innovative Verwendung von Brasiliens indigenen Zutaten bekannt.

Und das bekannteste Gericht? Naja, eigentlich ist es kein Gericht, sondern eine wertvolle Ware: Saúva-Ameisen, von Hand gesammelt von der legendären Doña Brazi, die dem Volk der Baré angehört. Atala serviert sie oft mit einem kleinen Stück Ananas oder streut sie über eine Meringue. Das klingt ein bisschen provokant von einem Rockstar-Koch, etwas für Instagram, aber nicht zum Genießen. Zumindest ist das der Eindruck, den man bekommt, wenn man Ameisen auf Speisekarten in anderen Restaurants der Welt probiert.

Plötzlich haben viele Köche ein großes Interesse an den sechsbeinigen Insekten entwickelt. Aber wie kommt es eigentlich?

Die Saúva-Ameisen, die Atala serviert, gehören zu der seltenen Gruppe der Insekten, die zu kulinarischen Zwecken gegessen werden, weil sie so verdammt gut schmecken. Sie sind das Symbol für eine kulinarische Renaissance Südamerikas und Teil der gastronomischen Schatztruhe von einem der größten Regenwälder der Welt geworden.

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Alex Atala ist Südamerikas einflussreichster Koch. Sein Interesse für Anthropologie, Ökologie und die Küche der indigenen Völker haben die Art und Weise, wie Brasilianer der Amazonas und dessen Einwohner sehen, revolutioniert.

Alex Atala ist Südamerikas einflussreichster Koch. Sein Interesse für Anthropologie, Ökologie und die Küche der indigenen Völker haben die Art und Weise, wie Brasilianer der Amazonas und dessen Einwohner sehen, revolutioniert.

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„Wir kratzen erst an der Oberfläche", sagt Atala.

„Momentan beschränkt sich unser Wissen über das Zeug, das man im Amazonas-Regenwald findet, auf einen sehr kleinen Bruchteil. Keiner weiß genau, was da draußen alles noch wartet."

Ich wollte das Ameisensammeln aus erster Hand erfahren, also reiste ich nach São Gabriel da Cachoeira, das Zuhause von Doña Brazi, eine der wichtigsten Lieferanten und Verkäuferin des Kontinents von Amazonas-Insekten.

Vor Doña Brazi brachten nur wenige Leute Essen aus dem Regenwald in die urbanen Gemeinschaften. Die andere Köche und Markthändler in São Gabriel da Cachoeira verkaufen, was Brazi als „weißes Essen" bezeichnet: Hähnchen, Hamburger, frittierter Fisch und Pommes. Obwohl 90 Prozent der Bevölkerung der Gegend indigenen Völkern angehört, wurde es als kontrovers angesehen, dass sie heimisches Essen förderte. Einmal forderte sie der Bürgermeister dazu auf, vom Markt zu verschwinden und zurück in den Regenwald zu gehen.

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Dona Brazi im Amazonas.

Doña Brazi zündet sich eine Zigarette an und lässt sie von ihrem Mundwinkel hängen. In einer Hand hält sie ihre Machete, in der andere eine kleine, elegante Handtasche.

„Und heute bin ich berühmt. Jeder redet über Doña Brazi und ihr fantastisches Essen. Sie kommen aus ganz Brasilien, ja, aus der ganzen Welt."

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Das Amazonasbecken

Ich laufe durch den Regenwald und habe Probleme, mit ihr mitzuhalten. Hier, das Herz des Amazonas, ist einer der wenigen Orte, wo die Welt zu einem anderen Rhythmus tanzt. Nur einige Kilometer außerhalb von Sao Gabriel ist das Leben für die mehr als 60 unkontaktierten indigenen Stämme in der Gegend komplett anders.

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Ihr Neffe Eli Ude, der kleine Löcher in den Boden gräbt und Stäbe hineinsteckt, hilft Brazi beim Ameisensammeln. Die Ameisen nervt das und folglich klammern sie sich an dem Stab fest.

Mein Gaumen ist nach ein paar Tagen von dem Essen, das nichts ähnelt, was ich bisher kannte, komplett verwirrt: der fade, mehlige, aber auf eigenartige Weise befriedigende Geschmack von pupunha, des Palmenpfirsichs; ungesüßte Getränke aus dem Superfood Açai; eigenartig aussehende Flussfische, die ohne Salz, dafür aber mit umso mehr Chilis zubereitet wurden. Die Art von Gericht, die den gesamten Mundraum in Brand setzt und die Haut der Zunge abzieht—es fühlt sich ein bisschen so an wie eine Tracht Prügel von einem dreckigen Fischhändler.

Mehr als 70 Prozent der tierischen Biomasse im Amazonasbecken sollen Ameisen sein. Aber nicht alle sind gleich. Klar, es gibt noch weitere essbare Arten wie die milde, knusprige maniwara, aber die richtige Delikatesse ist die Saúva.

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Chilis aus dem Amazonas.

Atala und Brazi trafen sich durch einen gemeinsamen Freund, den Anthropologen Beto Ricardo vom Instituto Socioambiental, einer NGO, die sich für die Rechte der indigenen Völker einsetzt. Atala bemühte sich schon früh um Produkte des Amazonas, aber anfangs war es schwierig für ihn, mit den Einwohnern des Regenwalds zu interagieren, ohne in ihr Leben einzudringen.

„Ich wusste, dass ich den Regenwald verstehen musste, nicht nur abernten und ausnehmen, wie so viele Außenstehende vor mir."

In Doña Brazi fand er eine Lehrerin, aber auch jemanden, den er zu einer Verteidigerin der indigenen Kultur formen konnte; eine leidenschaftliche Geschäftsfrau mit eisernem Willen. Er schrieb das Vorwort zu Brazis Buch über das indigene Essen das Amazonas und brachte sie als Star nach São Paulo. Brazi freut sich über ihren neu erlangten Ruhm, bleibt aber dennoch unbeeindruckt. Sie fühlt sich im Regendwald genauso wohl wie im Rampenlicht.

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Flussfisch mit viel Chili zubereitet.

Atala erinnert sich noch an das erste Mal, als sie ihm Saúva-Ameisen servierte.

„Ich hatte keine Ahnung, was ich probierte. Aber es war großartig. Ich fragte Doña Brazi, welche Gewürze sie verwendet hatte. Und sie antwortete, dass es einfach nur Ameisen waren. ‚Nein', sagte ich, ‚Welche Gewürze?' ‚Keine, nur Ameisen'. Sie hat mich wahrscheinlich für ein bisschen dumm gehalten und holte ein kleines Glas mit Saúva-Ameisen heraus. Und sie explodierten in meinem Mund! Wie Ingwer und Zitronengras, sehr aromatisch und erfrischend. Das war genau der Geschmack, den ich gesucht hatte."

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Maniwara-Ameisen

Doña Brazi bleibt plötzlich auf einem nicht gerade vielversprechendem Stück Land im Wald stehen. Sie zeigt auf ein paar Streifen in dem schlammigen Boden, zieht stark an ihrer Zigarette und bläst ein kleines Loch in den Boden.

„Früher hat Tabak gereicht. Heute wollen sie Filterzigaretten."

Ein paar Ameisen krabbeln aus dem Boden.

Sie sagt ihrem Neffen, er solle ein paar dünne Stäbchen holen und kleine Löcher in den Boden bohren. Nach ein paar Sekunden zieht sie die Stäbchen wieder heraus: Sie sind übersät von wütenden Ameisen. Sie streift sie in einen Eimer ab, der innerhalb weniger Minuten voll ist.

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Saúva-Ameisen

„Möchtest du nicht probieren?", fragt sie mich, fordernd und ungläubig gleichzeitig.

Wer würde eine solche Delikatesse nicht probieren wollen?

Normalerweise ist es mit lieber, wenn mein Essen schon tot ist und was ich ganz bestimmt nicht mag, ist, wenn es verärgert mit seinen kleinen Beinen strampelt und mit seinem Kiefer herumfuchtelt. Aber ich mache eine Ausnahme.

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Die erste beißt in meine Zunge und ein explosionsartiger Schmerz macht sich in meinem Mund breit. Ich spucke sie wieder aus.

Die nächste Ameise zermürbe ich schnell zwischen meinen Zähnen, bevor sie überhaupt dazu kommt, mich zu attackieren. Ich spüre sofort: eine Geschmacksexplosion. Zitronengras und Ingwer? Vielleicht. Als würde man in ein kleines Stück Limette mit Schale beißen. Oder einfach, wie Ameisen schmecken sollten: nach den krabbelnden, fleißigen, leckeren Aromen der Zukunft der südamerikanischen Küche.

„Besser geht's nicht", sagt Doña Brazi.

Sie zündet noch eine Zigarette an und nimmt eine kleine Handvoll Saúva-Ameisen in den Mund.

„Alex wird mit unserer Beute heute sehr zufrieden sein."